NÖN: Reinhard Waldhör: Corona, die Gräbern und der mögliche Kitt

Reinhard Waldhör: Corona, die Gräben & der mögliche Kitt

Waldviertels Betriebsräte-Sprecher der Kliniken und Pflegezentren erzählt, was seine Kollegen in den Spitälern überhaupt nicht verstehen können, wie die Pflegekrise bewältigt werden kann – und was der Bundespräsident mit ihm besprach.

Quelle: Interview mit Reinhard Waldhör in den Niederösterreichischen Nachrichten vom 24. November 2021. Das Interview führte Karin Widhalm.

Reinhard Waldhör hat als Betriebsrat das Ohr beim Pflege-Personal – nicht nur in Horn und Allentsteig, sondern in ganz Waldviertel. Er ist Sprecher einer Arbeitsgemeinschaft, wo Betriebsräte aus den Landeskliniken und Pflegezentren der Region vertreten sind. Zwei Mal in der Woche halten sie eine Videokonferenz ab.

Und Waldhörs Expertise ist gefragt: Der 53-Jährige absolviert TV-Auftritte und führt Interviews für Printmedien. Das hat sich bis zu Bundespräsident Alexander van der Bellen durchgesprochen.

Reinhard Waldhör: Er wollte einen Bericht aus erster Hand zum Thema Pflege und hat sich dafür 20 Minuten Zeit genommen, womit ich nicht gerechnet habe. Wir haben uns gut ausgetauscht. Er hat mich gebeten, den Kollegen seinen Dank auszurichten. Das kommt bei den Leuten gut an, die sagen: Endlich jemand in der Politik, der weiß, was sich gehört.

Haben auch Bundeskanzler, Gesundheitsminister oder jemand aus der Regierung das Gespräch mit Ihnen gesucht?

Waldhör: Nein. Der Gesundheitsminister hat im Abgang bei einer Pressekonferenz erklärt, dass es eine Impfpflicht für die Gesundheits- und Pflegeberufe geben werde. Ich habe ihm ausgerichtet: Wir sind keine Soldaten, die im Krieg sind. Er soll mit der Befehlsausgabe aufhören, er soll in den Dialog kommen. Das ist jetzt sowieso obsolet, weil die Impfpflicht alle trifft. Aber die Kommunikation-Thematik bleibt.

Wie stehen Sie zur allgemeinen Impfpflicht?

Waldhör: Wir sind an einem Zeitpunkt angelangt, wo wir die benötigte Durchimpfungsrate mit einer Freiwilligkeit nicht mehr zusammenkriegen. Wenn wir keine fünfte oder sechste Welle haben oder geringer halten wollen, dann ist sie die richtige Maßnahme.

Als nur unsere Berufsgruppe betroffen war, hatten meine Leute das Gefühl: Wir haben die Republik durch die Krise getragen und sind jetzt die Einzigen, die Impfpflicht haben müssen. Das ist also die Antwort des Ministers nach dem „5 nach 12“-Protest. Man hat es als Bestrafung gesehen.

Natürlich gibt’s auch in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern eine Prozentzahl an Leuten, die mit einer Impfung wenig anfangen können. Ungefähr fünf Prozent der Menschen werden wir auch mit einer Impfpflicht nicht mehr erreichen können: Sie sind in ihrer Position zu sehr einbetoniert. Aber gerade im Gesundheitsbereich der Kliniken haben wir 80 bis 85 Prozent, die geimpft sind. Wenn wir die Genesenen dazunehmen, befinden wir uns in einer Größenordnung, wo der Rest eine verschwindende Minderheit ist. Das sind jene, über die wir ständig reden, die absolut lauten.

Aber es macht sich schon Spannung auf, wenn ein K2-Geimpfter für einen K2-Ungeimpften, der zu Hause bleiben muss, den Dienst übernehmen muss. Wir schauen, dass das nicht eskaliert.

Wie schafft man das?

Waldhör: Der Zentralbetriebsrat hat schon vor der Impfpflicht-Verkündigung eine Grundsatzerklärung zur Zusammenarbeit herauszugeben, dass wir alle gleichberechtigt miteinander umgehen sollen, ob geimpft oder ungeimpft. Ich wäre dafür, dass 100 Prozent der Personen geimpft sind, aber ich muss jenen auch respektieren, der sagt, ich mache es ganz sicher nicht. Eines muss man schon sagen: Unsere Leute können nach zwei Jahren Pandemie mit dem Virus umgehen.

Aber es darf auch nicht zu einer Vorteilsrolle für die Ungeimpften kommen. Ich hatte Anfragen von Mitarbeitern, die sagen: Ich bin nicht geimpft, ich möchte nicht auf einer Covid-Station arbeiten. Das geht nicht. Es gibt Maßnahmen, die für alle gelten, es gibt ein Rotationssystem und auch die Immunisierten testen sich regelmäßig. Gleichberechtigung darf keine Einbahnstraße sein – und das sieht ein großer Teil des Personals auch ein.

Wie sieht die Corona-Lage in den Waldviertler Spitälern aus? Müssen Stationen zusammengelegt werden? Müssen Betten für Covid-Patienten freigemacht werden? Müssen OPs verschoben werden?

Waldhör: Ja, ja und ja. Waidhofen und Gmünd sind die Covid-Schwerpunkte im Waldviertel und wir kommen mit diesen Häusern nicht mehr aus. Wir haben in Horn eine Covid-Abteilung, die bereits voll ist und wir sind auf die nächste Stufe vorbereitet, wo die kleinere Chirurgie-Abteilung geschlossen wird, um das Personal für die Behandlung von Covid-Patienten einsetzen zu können.

Das ist für das Personal zusätzlich belastend, von einem Tag auf den anderen ist der Heimathafen auf der Arbeitsstelle weg. Sie fühlen sich wie Getriebene. Und: Die Covid-Kurve war niemals so hoch, wie sie jetzt ist. Die Lage ist sehr, sehr angespannt.

Werden Patienten aus anderen Bundesländern aufgenommen?

Waldhör: Das ist mir momentan nicht bekannt, aber wir haben in Waidhofen einen Intensivpatienten aus einem anderen Viertel in Niederösterreich. Natürlich ist es so, dass man sich gegenseitig aushilft., wenn es möglich ist. Das System ist sehr durchdacht im Waldviertel wie auch in Niederösterreich.

Die Pflegebediensteten haben erst in einem Protest auf ihre prekäre Lage hingewiesen: Wie geht’s ihnen jetzt?

Waldhör: Schlecht. Wir haben über dem Sommer eine Erhebung gemacht und die physische und psychische Lage des Gesundheits- und Pflegepersonal erfragt. 6.500 Kollegen haben österreichweit mitgemacht. Das war zu einer Zeit, in der ein Stück Normalität zurückgekehrt ist. Eine einschneidende Antwort war, dass 42 Prozent unserer Kollegen mehrmals in der Woche darüber nachdenken, aus dem Beruf auszusteigen. Das ist ein Horrorwert, bei uns schrillen die Alarmglocken: Wir versuchen, das auch in Richtung Politik zu transportieren.

Die Pandemie verschlimmert das. Wenn ein Covid-Patient dem Personal erklärt, er wolle nicht auf die Intensivstation, sondern das Spital verlassen, weil das alles ein Scheiß ist, dann ist das gegen jede Rationalität. Das verstehen meine Kollegen nicht, die Stimmung ist zum Teil sehr schlecht. Wir brauchen den Kleber, damit sich die Gräben überwinden lassen.

Was kann dieser Kleber sein?

Waldhör: Man müsste politische Kräfte wie MFG und FPÖ davon überzeugen, dass die Lage zu prekär ist, und dass sie bitte aufhören sollen, die Coronaleugnung auch noch zu schüren. Diese komplette Entwicklung bereitet mir Sorgen.

Nach öffentlichen Auftritten erhalte auch ich die ein oder andere „freundliche“ Mail. Das halte ich aus, aber das ist in Wahrheit schon grenzwertig. Zu Beginn habe ich mir ein Herz genommen und zurückgerufen, wenn eine Nummer dabeigestanden ist. Die Situation ändert sich, wenn ein echter Gegenüber spricht. Aber mittlerweile habe ich das aufgegeben. Das verbraucht sehr viel Energie und Zeit.

Versammeln sich Impfgegner auch vor Waldviertler Kliniken?

Waldhör: Das ist mir nicht bekannt. Aber in täglichen Gesprächen hört man diese Argumente vom Mechaniker bis hin auch zum Mediziner. Ich weiß nicht, wie man zu solchen Erkenntnissen kommt. Die Covid-Impfung ist die am meisten erforschte Impfung, aber das geht nicht mehr in den Köpfen rein. Ich glaube, man hat von Beginn an den Fehler gemacht, die Wissenschaft in den Hintergrund zu rücken. Die großen Bekanntmachungen haben Politiker gemacht, die dann sofort von der Opposition angegriffen wurden. Die politische Einschätzung ist zuerst da: Hilft’s mir oder schadet’s mir? Aber es braucht niemand zu sagen, die Experten haben die vierte Welle nicht vorhergesehen. Wir hätten es schaffen können, sie sehr niedrig zu halten. Jetzt müssen wir die schärfsten Maßnahmen setzen.

Werden nach der vierten Welle noch mehr Mitarbeiter den Pflegebereich verlassen?

Waldhör: Diese Gefahr ist sehr real. Die Abwanderung hat schon eingesetzt und es sind wirklich viele, die sagen: Ich bin solidarisch und stehe die Krise noch durch, aber dann bin ich weg. Viele reduzieren die Stunden von 40 auf 30 um dann mit Überstunden „nur“ 40 zu arbeiten. Die älteren Dienstnehmer, die vor 2002 angefangen haben, verzichten bei Kündigung auf Abfertigungen und lassen zum Beispiel zwölf Monate liegen. Das sind schon Zeichen von klarer Überforderung.

Was muss getan werden?

Waldhör: Die kurzfristigen Antworten sind schwierig zu geben. Wir brauchen schlicht und ergreifend mehr Personal.

Ich muss schon eines dazu sagen: Wir haben in der Landesgesundheitsagentur (LGA) dazu Gehör gefunden. Allerdings: Wenn der Arbeitsmarkt leer ist, hilft’s nichts, wenn ich einen zusätzlichen Dienstposten kriege. Das Problem ist auch, dass wir die Posten nicht besetzen können.

Was machen man könnte, ist, Maßnahmen zu treffen, dass die Aussteiger wieder zurückkommen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie steht ganz vorn, aber auch die Dienstplan-Sicherheit. Die Pflege ist kein „Nine to five“-Job, für jeden Monat wird ungefähr zwei Wochen vorher ein neuer Dienstplan erstellt. Seit langer Zeit ist es aber so, dass freie Tage trotzdem nicht frei bleiben, weil das tägliche Einspringen an der Tagesordnung steht. Man kann sich das Leben nicht mehr einteilen und damit haben die Leute das Problem.

Die Ersatzsuche läuft noch dazu über Chatgruppen, da sind wir völlig dagegen. Natürlich, der Suchende ist selbst ein armer Hund. Aber sobald das Hakerl blau ist und man antwortet nicht, ist man schon ein Verweigerer. Das kann nicht sein.

Wir sind dran, mit dem Dienstgeber in Sankt Pölten zu verhandeln, dass nicht immer alle automatisch in die Pflicht genommen werden, sondern man definiert, wer der Erste und der Zweite ist, der einspringen kann. Dafür gibt‘s die Garantie, dass derjenige zum Beispiel in den nächsten Tagen nicht wieder einspringen muss. Das halte ich für eine sinnvolle Maßnahme, so kann man für die Leute auch wieder Normalität zurückholen.

Muss es mehr Ausbildungsstätten geben?

Waldhör: Absolut. Wir müssen das Ausbildungsangebot vermehren. Was wir befürworten, ist die Höhere Schule für soziale Berufe und Pflege. Die Caritas hat ein Pilotprojekt in Gaming, das wirklich gut läuft. Wir würden uns eine viel raschere Ausrollung in das Regelschulwesen wünschen, damit die Ausbildung auch kostenfrei wird – und einen Standort im Waldviertel. Je näher die Ausbildung ist, desto besser die Chance, dass der Absolvent in der Region bleibt. Aber da laufe ich momentan gegen die Wand: Ich habe kaum Verbündete außer die regionale LGA. Auch die Fachhochschulen haben wenig Interesse, eine externe Außenstelle zu kreieren. Das sind Dinge, die sehr langfristig liegen.

Wir sperren uns klar gegen das Thema Pflegelehre. Man darf die Jugend nicht zu früh gerade in den Langzeitpflegebereich zu mulitmorbiden Menschen und zu Sterbenden bringen. Sie würden dadurch so schwer belastet, dass sie relativ rasch aussteigen und nie wieder zurückkommen.

Muss der Verdienst besser werden?

Waldhör: Das Einstiegsgehalt ist je nach Ausbildungsstufe immer ein Thema, wenn man über die Mühsal im täglichen Dienst redet. Aber in Umfragen kommt das Gehalt an sechster Stelle, zumindest im öffentlichen Bereich. Das ist bei den privaten Anbietern ein bisschen anders, wobei sie in den letzten Jahren massiv nachgezogen haben. Trotzdem ist dort der Ruf nach mehr Gehalt viel größer als bei uns.

Klar ist aber auch: Das ist das Schnellste, was wir kriegen können. Es braucht nur einen Landtagsbeschluss dazu.

 

Zur Person:

Reinhard Waldhör ist Betriebsratsvorsitzender am Landesklinikum Horn-Allentsteig und Sprecher der Betriebsräte-Arbeitsgemeinschaft der Landeskliniken und Pflegezentren im Waldviertel. Er ist zudem Vorsitzender der GÖD-Gesundheitsgewerkschaft.

Das Waldviertel hat fünf Landeskliniken und sieben Pflege- und Betreuungszentren.